Kipling in Calcutta – eine literarische Spurensuche

Im Januar 1888 besuchte der damals gerade 23-jährige Rudyard Kipling die koloniale Metropole Calcutta. Der spätere Autor des Dschungelbuchs, des Jugendromans „Kim“ und der „Bürde des Weißen Mannes“ arbeitete als Journalist für eine Zeitung in Allahabad. Geboren war Kipling als Sohn britischer Eltern am 30. Dezember 1865 in Bombay, aber seine Kindheit verbrachte er in Lahore. Die Eindrücke vom Calcutta-Aufenthalt veröffentlichte er in einer Serie von Aufsätzen, die dann 1899 unter dem Titel „The City of Dreadful Night“ als Büchlein erschienen.

So sehr Kiplings Sprachmächtigkeit und literarische Reife schon in diesen jungen Jahren hervor tritt, mit Calcutta rechnet der junge Reporter gnadenlos ab. Er kritisiert Gestank und behördliche Unfähigkeit der lokalen Stadtverwaltung, er kritisiert aber auch die Arroganz seiner britischen Landsleute, die solche Umstände erlauben und sich dabei in einem zweiten London wähnen. Für die einen kommt in „The City of Dreadful Night“ der spätere Imperialist Kipling zum Vorschein, für die anderen ist er der junge Idealist, der sich über untragbare Zustände aufregt, die er als „Anglo-Inder“ in „up-country“ nicht zugelassen hätte. In jedem Fall aber sind seine Beschreibungen ein lesenswertes Spiegelbild der Metropole am Ganges-Unterlauf, deren Spuren noch heute zu finden sind.

September 1977

Im August 2017 hat der hiesige Chronist versucht, einige dieser Spuren wieder zu entdecken, fast auf Jahr und Tag 40 Jahre nach seinem ersten Besuch in Calcutta, zufällig auch als gerade 23-Jähriger. Aus dem Reisetagebuch vom 24.9.1977: Den entferntesten Punkt von zu Hause auf dieser Reise haben wir erreicht: die größte indische Stadt, Calcutta! Der erste Eindruck war nicht einmal so schockierend … . Als wir auf dem Howrah-Bahnhof ankamen, hatte der Berufsverkehr nämlich noch nicht eingesetzt. Auf dem Bahnhof war es für eine 8-Millionenstadt sehr ruhig“.

Im Kapitel „A Real Live City“ schreibt Kipling noch optimistisch (alle Kipling-Zitate in Blau und in eigener Übersetzung und Bearbeitung): “Es gibt nur eine Stadt in Indien. Lasst uns den Hut ziehen vor Calcutta, die Vielseitige, die Rauchende, die Großartige, wenn wir über die Hughli-Brücke in der Dämmerung eines frühen Februarmorgens fahren. Wir haben Indien an der Howrah Station hinter uns gelassen und betreten jetzt den ausländischen Teil. Nein, nicht ganz so fremd. Sagen wir: eher viel zu vertraut.

Der dichte Dunst hängt tief in der morgendlichen Kühle, über einem Ozean von Dächern. Und wenn die Stadt erwacht, erreicht ein tiefer, voller Ton des Lebens, Bewegung und  Menschlichkeit den Rauch. Wer Calcutta zum ersten Mal sieht, wird aus diesem Grund sich frohgemut aus der Kutsche lehnen und den Dunst einatmen wollen, und sein Gesicht in den Tumult drehen und sagen: „Das ist etwas zurück aus meiner Erinnerung. Das ist eine Stadt. Hier gibt es Leben….  jenseits des Flusses und unter dem Smog“.

 

Die Howrah Bridge stammt aus den 1940er Jahren. Zu Kiplings Zeiten war jene Brücke über den Hughli eine Pontonbrücke

„Aber diese Litanei beschreibt nur die ersten Gefühle eines in Calcutta ziellos wandernden Fremden. Das Auge verliert den Sinn für Proportionen, die Wahrnehmung beschränkt sich nur auf das Leben in Standorten in up-country – 20 Minuten Galopp vom Hospital zum Paradefeld, Sie verstehen – und irgendwie ist der Verstand mit dieser Wahrnehmung geschrumpft.  Sieht man den Schiffsverkehr unter der Hughli-Brücke, so sagt man sich: ‚Das ist London! Das sind die Docklands! Das ist imperial. Das ist es wert rüber nach Indien zu kommen und zu sehen‘. Dann aber bemächtigt sich des Gehirns eine durch und durch boshafte Idee: ‚Was für ein göttlicher, was für ein himmlischer Ort zum Plündern!’“

Ein Rikshaw Puller ruht sich von der Tagesarbeit aus.

Für jeden, der nicht mit Calcutta vertraut ist, bleibt die Stadt  einschüchternd. Für die verschwundene Illusion eines Erbes, welches wieder hergestellt werden müsste, lasst uns drüber schlafen und beten, dass Calcutta morgen besser wird. Aber bislang ist es eher so als ob mit einem Leichnam zu schlafen. Der Morgen mag guten Rat geben. Stinkt Calcutta tatsächlich so verpestet? Starker Regen ist über Nacht gefallen. Die Stadt ist frisch gewaschen und das klare Sonnenlicht zeigt sie von der besten Seite. Wohin aber wohin nur in dieser Wildnis des Lebens sollte der Mensch gehen?

Schlaf in der Park Street

Newman & Co. publiziert einen Drei-Rupien-Guide, der zunächst Verzweiflung und dann schiere Angst beim Leser erzeugt. Lassen Sie uns Newman & Co. aus den obersten Fenstern des Great Eastern Hotels fallen und trauen wir unserem Glück und den kommenden Stunden, in den sich Wunder, Mysterien und Verwunderung entwickeln. In allen seinen hundert Zimmern brummt das Great Eastern Hotel mit Leben. Türen schlagen fröhlich zu und alle Nationen der Erde rennen die Treppenfluchten auf und ab. Man findet kaum Platz in den Salons, wo die Engländer sich treffen. Dort sitzen oft 70 von ihnen um einen Esstisch mit dem betäubenden Lärm klappernden Messer und Gabeln. Man findet auch eine echte Bar in der Drinks ausgeschenkt werden. Und – Freude der Freuden – man tritt vor dem Hotel in die Arme eines lebenden, weißen, einen Helm tragenden, zugeknöpften und mit Schlagstock bewehrten Bobby! Ein schöner, stämmiger Bobby – wie jene Art von Mann, der 7000 Meilen entfernt die stotternden Witzeleien der nächtlichen Zecher um drei Uhr morgens mit dem starken Arm seiner Autorität abfängt.“

„Das Writers‘ Building ist riesig. Man kann die eifrigen Beschäftigten von einem halben Dutzend verschiedener Abteilungen belästigen, bevor man die schwarz-beschmutzte Treppe findet, die in eine Kammer im oberen Stockwerk führt und von der man einen Ausblick auf die quirligen Straßen hat. Ungestüme Büroboten blockieren den Weg. Die Stadtverordneten-Sahibs sind gerade in einer Sitzung. … Der Raum ist achteckig und hat eine blaue Domkuppel. Ein dicker Teppich bedeckt den Boden, das muss in heißem Wetter entzückend sein. Auf einem schwarzen hölzernen Thron, komfortabel gepolstert mit grünem Leder, sitzt Sir Stuart Bayley, der Herrscher von Bengalen. Der Rest sind alles bekannte Männer, sonst wären sie nicht hier. Sie nicht zu kennen entlarvt einen selbst als einen Unbekannten.“

„Wo ist der Park Street Friedhof? Hundert Rikshawfahrer springen auf und nach einem kurzen Kampf entlädt einer seinen Fang auf einem Friedhof – einem grauenhaften Ort nahe der Straßenbahnlinien. Das wurde nicht gesucht. Hier sind die lebenden Toten, solche, deren Namen noch nicht komplett verschwunden sind und deren Gräber gepflegt werden. ‚Wo sind die  alten Toten‘? ‚Da geht niemand hin‘, sagt der Rikshawfahrer. ‚Die Straßen weiter runter!‘ Er zeigt auf einen langen und verlassenen Durchgang zwischen hohe Mauern. Wenn man drin ist, steht der Besucher im Herzen von totalem Verfall. Der Reiseführer mag Dir mitteilen, wann der Friedhof geschlossen wurde, das Auge könnten schwören, dass er so alt sei wie Herculaneum oder Pompeji. Die Gräber sind kleine Häuser.

Es ist, als ob man die Straßen einer Stadt durchschreitet, so groß sind sie und so eng stehen sie zusammen. Die Hinterbliebenen müssen befürchtet haben, ihre Freunde könnten vor der zugemessenen Zeit auferstehen, dass sie die Verstorbenen mit solchen grausamen Hügeln aus Mauern beschwert haben. Starke Männer, schwache Frauen, oder irgendjemandes „15 Monate altes Kind“  – es ist alles das gleiche. Menschen waren reich in jener Zeit und konnten es sich leisten, Dutzend Kubikmeter Mauerwerk auf das Grab zu bauen, sogar für eine bescheidene Persönlichkeit wie jener „Jno. Clements, Captain of the Country Service, 1820“.  Sobald die „Dearly beloved“ etwa den Rang eines Commissioners innehatten, war der Aufwand noch opulenter und der Vers lautet etwa

‚Soft on thy tomb shall fond Remembrance shed

The warm yet unavailing tear,

And purple flowers that deck the honored dead

Shall strew the loved and honored bier.‘

Das Nichteinhalten des Vertrages wird wohl nicht dazu führen, dass die Anzahlung für das Grab verloren geht. Sonst wäre der geehrte Tote traurig. Der Grabstein ist nämlich herunter gefallen und lehnt sich fast belustigt gegen das Grabmal. Die Umrandung ist verrottet und es gibt keine Ornamente mehr, sondern nur Flecken und Beulen. Sie sind Arbeit des Wetters, nicht der „warmen, aber nutzlosen Tränen“. Die Augen, welche sie vergießen sollten, sind selbst schon längst geschlossen in den 70 Jahren seitdem.“

Vieles in Calcutta wirkt heute noch so, wie es Kipling beschrieben hat. Und in mancher Hinsicht sind seine Geschichten ein Abbild kolonialer Ambivalenz und Dekadenz. Aber nicht umsonst ging von Calcutta nicht nur die imperiale Ausbeutung Indiens aus, sondern auch die Unabhängigkeitsbewegung, die vor 70 Jahren zur Teilung Britisch-Indiens in die beiden Staaten Indien und Pakistan führte. 1971 gab es eine weitere Abspaltung, das unabhängige Bangladesh! Calcutta lag an der Nahtstelle der Teilung und musste hunderttausende Flüchtlinge aufnehmen, 1947 ebenso wie 1971.

Aber bei den Besuchen in der Stadt über die vergangenen vier Jahrzehnte lassen sich auch Veränderungen feststellen: 1984 wurde in Calcutta die erste indische U-Bahn eröffnet, welche Dum Dum im Nordosten mit Tollygunge im Süden verbindet. Neue Linien in Ost-West-Richtung unter dem Hughli hindurch sind in Bau, eine weitere moderne Brücke über den Fluss ist seit 2005 fertig.

Ein Besuch in Calcutta (heute: Kolkata) bleibt eine atemberaubende Erfahrung. Vom hypermodernen Flughafen, benannt nach Netaji Subash Chandra Bose, dem bengalischen Unabhängigkeitskämpfer, mag man in einem 40 Jahren alten klapprigen „Yellow Cab“ ins Stadtzentrum fahren. Man kann sich in einer handgezogenen Rikshaw zur U-Bahnstation transportieren lassen und dann in klimatisierten Zügen für weniger als 20 Euro-Cent den Tollygunge Golfclub erreichen. Man kann  in der Great Eastern Bakery einen Latte Chai zu sich nehmen, mit frischen Croissants, und direkt gegenüber auf dem Bürgersteig einen Massalatee aus einem selbst gebrannten Tonpöttchen trinken.

In der St. John’s Church spielt eine Anglo-Chinesin Choräle auf einem verstimmten Klavier. Die Kirche wirkt wie ein Denkmal für die sich vermeintlich aufopfernden Kolonialherren, die hier regierten, superreich ins Heimatland zurück kamen oder in fernen Gefilden früh starben. „I Vow to Thee, my Country...“

Im Tagebauch des Chronisten von 1977 heißt es: „Tatsächlich gibt es in dieser Stadt, ja im ganzen Land unvorstellbar viel zu tun. Den Eindruck, den selbst das Zentrum auf den Besucher macht, ist niederschmetternd. Sicher, die Straßen von Amritsar sahen schlimmer aus. Aber das menschliche Elend hier, der Hunger ist doch ungleich größer. Menschen wühlen im Dreck, leben am Straßenrand, betteln. Dabei haben wir die eigentlichen Slumgebiete gar nicht gesehen. Andererseits befindet sich die Stadt im Fußballfieber. Cosmos New York spielt heute mit Pelé gegen eine hiesige Mannschaft. Sie wohnen im Grand Hotel, keine zwei Minuten von hier. Ja, das sind indische Gegensätze. Ganz bestimmt bilden gerade sie das Pulverfass der Zukunft“.

Grund für Optimismus: Seit 40 Jahren sitzt der alte Mann am BBD Bagh und tauscht gegen eine kleine Gebühr Münzen an Bus- und Straßenbahnfahrer – Kleingeld ist immer knapp (rechts ein junger Stadtführer).

Weitere Informationen:

Calcutta Cemetery Chronicles, THE HINDU 17.9.2017

Kipling bei Wikipedia 

Kipling aktuell, THE GUARDIAN 7.10.2017

Eine alte Karte Calcuttas von 1893.

Das Territorium Britisch-Indiens kurz vor der Teilung und Unabhängigkeit (Karte eines Verlages in Malaga, Spanien)