Das südindische Kerala ist bekannt für Palmenstrände und Ayurveda-Kuren. Seine Backwaters – Lagunen und Seen im Hinterland der Küste – sind eine einzigartige Landschaft, die man mit luxuriösen Hausbooten bereisen kann. Aber schon in der Antike waren Kerala und die gesamte Küste zwischen Goa und dem Kap Komorin Ziel von Händlern aus Alexandria und Rom, die nach Luxusgütern suchten. Es war ein profitabler Handel für beide Seiten, zumal ein ägyptischer Kapitän die Vorzüge der Monsunwinde zur Direktüberquerung des Arabischen Meeres entdeckt hatte („Hippalus-Winde“). Der Alexandriner Bibliothekar Ptolemaeus, der „Periplus des Erithräischen Meeres“ (ein Seefahrerhandbuch) und nicht zuletzt das antike Kartenwerk der Peutingerschen Tafel beschreiben Häfen, Handelsplätze und Distanzen an der Westküste Indiens. Besonders letztere ist für die Suche nach dem alten Handelszentrum Muziris relevant. Hier in der Sektion 12 („India“) der insgesamt sieben Meter langen Karte aus der Spätantike sind Muziris und ein benachbarter „Templ. Augusti“ eingezeichnet, nördlich (in der Karte links) eines großen Sees, der den Vembanad Lake markieren könnte.
Das antike Muziris im Bereich der heutigen Periyarmündung zu finden ist deshalb schwierig, weil die von Monsunniederschlägen und Erosion geprägte Küstenlandschaft sich dauernd verändert. Holz und Lehmziegel sind das Baumaterial für Tempel und Paläste in Kerala, nicht gerade Materialien für Jahrtausende. Aber immer wieder tauchen Tonscherben, Perlenschmuck oder gar Münzen in den Sedimenten auf, so auch im kleinen Dorf Patanam, im North Paravur District 40 km nördlich der Metropole Kochi/Cochin gelegen.
Die Funde um 2005 waren hier so vielversprechend, dass die Archäologen des Kerala Council of Historical Research aus der Hauptstadt Thiruvananthapurem/Trivandrum mit systematischen Ausgrabungen begannen, mit einer Lizenz des Archäologischen Dienstes Indiens. Der ASI ist zuständig für alle Ausgrabungen in der Indischen Union. Die Ausgrabungen sollten aber eingebettet werden in ein touristisch und wirtschaftlich hachhaltiges Gesamtkonzept für die Region. Allzuoft gehen Ausgrabungen gegen die Interessen der betroffenen Landbesitzer. Mit dem Muziris Heritage Project sollten „viele Fliegen mit einer Klappe geschlagen“ werden: Es umfasst die Restauration viele anderer kulturelle Zeugen der Vergangenheit, wie Tempel, alte Moscheen und Kirchen, jüdischen Friedhöfe und Synagogen.. Die (deutschsprachige) Webseite des Projekts gibt dazu ausführliche Informationen.
Ich konnte vor einiger Zeit zweimal die Ausgrabungen in Pattanam besuchen. Inzwischen sind noch weit spektakulärere Funde (etwa eine Hafenmole) gemacht worden, wenngleich der Augustustempel – der ultimative Beleg für die Existenz von Muziris – noch fehlt.
Aber es lohnt sich eine Rundtour zu den weiteren Stationen des Muziris Heritage Projects (siehe Webseite). Besonders augenscheinlich wird das Konzept im kleinen Ort Chenndamangalam, einige Kilometer östlich der Ausgrabungen. Auf einem Laterithügel am Südufer es Periyars lag einst ein Palast des lokalen Fürsten. Übrig geblieben ist nur ein Krishna-Tempel. Am Abhang direkt unterhalb liegt ein jüdischer Friedhof und die einstige Moschee. Einige hundert Meter entfernt die Synagoge, die heute in ein Museum zur jüdischen Geschichte umgewandelt ist. Kerala hat hiermit neben seinem Natur- und Gesundheitstourismus ein weiteres Standbein mit kulturhistorischen Highlights erhalten, die sich bislang weitgehend auf Fort Cochin/Mattancherry beschränkten.
Die großen Weltreligionen, alle in enger Nachbarschaft unter Palmen, an den Gestaden des Indischen Ozeans, so könnte eine Utopie aussehen. Das Muziris Heritage Project annonciert ganz offensiv diese traditionelle Weltoffenheit und Toleranz an der Malabarküste. Und wir verlangen nach solchen Utopien in Zeiten, in denen Religionen und Nationen wieder aufeinander losgehen. Aber war es nicht eher die „Toleranz“ von Händlern und Herrschenden untereinander? Die ist keine große gesellschaftliche Leistung, so lange alle profitieren. Auch an der Wall Street herrscht sicher allergrößte kulturelle Toleranz.
Den eigentliche Beweis für ein funktionierendes Miteinander liefern die Dörfer und Siedlungen in Zentral- und Südkerala, weitab von den Hauptstraßen und Touristenzentren. Hier liegen Kirchen, Tempel und Moscheen in enger Nachbarschaft (die jüdische Gemeinde an der Malabarküste ist nach der Staatsgründung Israels dorthin ausgewandert), hier gehen der morgendliche Ruf des Muezzin, die Glöckchen der Tempel und die Kirchenglocken ineinander über. Feiert der eine Id, der andere Onam und der dritte Weihnachten, so beschenken und besuchen sich alle gegenseitig. Diese gelebte Utopie wird nur dann gestört, wenn Machtgierige religiöse Identität gegeneinander ausspielen. Dagegen ist leider kein Kraut gewachsen.
Weitere Informationen:
Indiens multikulturelle Vergangenheit (AL JAZEERA.com)
Webseite des Muziris Heritage Projects in Deutsch
Homepage des Kerala Council for Historical Research
Ausgrabung am Vaigai, Tamil Nadu, THE HINDU 16. Mai 2017
Weitere Ausgrabungen in Pattanam nach 5 Jahren Pause. The Hindu online, 23. September 2020
Klicke, um auf Pattanam-Catalogue-Masterlayout-05122014.pdf zuzugreifen