Türkei: in neuer Verfassung

Er hat es also geschafft, auch wenn 51,4 % das knappste aller Ergebnisse ist (das wird in kurzer Zeit vergessen sein): Die Türkei ist jetzt eine präsidiale Republik. In diesem Foto vom Mai 2016 in Rize an der Schwarzmeerküste schaut er schon sehr selbstbewusst über den Marktplatz hinweg.

Aber schauen wir doch auf die 48,6 %, die sich gegen die Verfassungsänderung ausgesprochen haben, dies trotz der medialen Dominanz der „Evet“-Seite. Auf der Webseite der Zeitung „Hürriyet“ gibt es dazu interaktive Karte. Alle drei Metropolen (Istanbul, Ankara und Izmir), die europäische Türkei, die gesamt Mittelmeerküste von den Dardanellen bis zum Golf von Iskenderun, die kurdischen Regionen im Südosten und die Grenzregionen im Nordosten haben mehrheitlich mit „Hayir“ gestimmt. Und wo sind die Ja-Stimmen? Buchstäblich im Herzen der Türkei, etwa in Konya (mit 75 % Ja, oder in Rize, gleichfalls mit 75 %). Aber auch Regionen im Inneren mit starkem Tourismus (bzw. dessen derzeitigen Rückgang), wie Nevshehir und Kayseri, haben mit „Ja“ gestimmt. Auffällig, dass die Regionen im Südosten, von Malatya über Adyaman bis Sanliurfa, mit großer Mehrheit für die Verfassungsänderung gestimmt haben. Es sind die Regionen mit gewaltigen Infrastrukturprojekten, wie dem des Südostanatolien-Projekts (Euphrat-Staudamm und Bewässerungskanäle), dazu mit neuen Flughäfen und über die Taurusautobahn an den Kern und den Westen des Landes angebunden.

Es gab also keinen umfassenden Trend zur „starken Hand“ in Ankara, sondern eine sehr knappe Mehrheit. Und die zeigt, dass die Türkei auch regional gespalten ist: Metropolen und liberale Küstenregionen gegen das „flache Land“. Zugegeben, das ist sehr grob charakterisiert, denn auch Urfa, Gaziantep oder Malatya sind Großstädte. Wer mit „Ja“ gestimmt hat, erhofft sich ein „Weiter so“ unter dem derzeitigen Amtsinhaber. Das mag kurzfristig gedacht sein, aber Volksabstimmungen sind viel seltener rational begründete Entscheidungen, als wir oft glauben. Es gäbe sonst keinen Trump oder Brexit (und nach den Erfahrungen der Weimarer Republik hat das Grundgesetz der Bundesrepublik wohlweislich auf dieses Instrument verzichtet und die parlamentarische Verfassung gestärkt).

Alles hängt jetzt davon ab, wie der Staatslenker die neuen politischen Möglichkeiten „ausgestaltet“. Für jeden von uns wäre z.B. die Einführung der Todesstrafe die „rote Linie“, mit der die Türkei sich von einem EU-Beitritt ausschließt. Nach allen Fortschritten der letzten Jahrzehnte beschleunigte sich somit eine rückwärts gewandte Entwicklung.

Stimmen der Deutschtürken

Ein gewichtiger Bestandteil türkischer Innenpolitik sind (ausgerechnet) die Millionen in Deutschland lebender Türken. Sie sind in vielerlei Hinsicht unsere Mitbürger, Arbeitskollegen, Nachbarn, Kommilitonen oder Mitschüler geworden. Seit den 1960er Jahren haben sie, als „Gastarbeiter“ ausdrücklich angeworben, zum Wirtschaftswunder BRD beigetragen. Etwa 50 % der Wahlberechtigten hier haben sich beteiligt – sie mussten dazu in die Wahlzentren der großen Städte fahren (das Plakat links stammt aus einem türkischen Supermarkt in Salzgitter). Zwei Drittel davon haben sich für die Verfassungsänderung entschieden und waren so – zumindest statistisch – das Zünglein an der Waage. Es bedarf einiger politischer Reflexion und Diskussion, was dies über die Integration der Deutschtürken in unsere Verfassungswirklichkeit aussagt. Noch tragischer wäre es sich vorzustellen, dass ausgerechnet diejenigen, dich sich hier einer liberalen parlamentarischen Demokratie erfreuen könnten, ihren Mitbürgern daheim dies vorenthalten.

 

 

 

 

Weitere Informationen:

Artikel zur Abstimmung in THE GUARDIAN, 10.04.2017

CNN über Konya

Arbeitslosenzahlen Türkei, Hurriyet Daily News 16. Mai 2017