Requiem für Britannien?

Vor einiger Zeit verbrachten wir eine Woche in der kleinen Stadt Cheddar (wo der gleichnamige Käse herkommt), Grafschaft Somerset. England at its best: Heckenlandschaft, Scones with Cream and Jam, Bath, Bristol, Exmoor und Salisbury nicht allzu weit. Besonders beeindruckt waren wir von einem „Tag der offenen Gärten“: Man spazierte durch die Wohnzimmer der Townhouses hindurch in bezaubernde Hintergärten. So viel Openness und Welcoming war uns bislang unbekannt (man hatte nicht mit Visitors from Germany gerechnet, aber weil wir schon mal da waren…). Die Grafschaft Somerset hat im Juni 2016 mit knapper Mehrheit für den Brexit gestimmt.

Nächste Woche beantragt Theresa May formal den Ausstieg des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union.  Kaum eine demokratisch gefällte Entscheidung in einem europäischen Land ist so umstritten, wie diese. Für die einen geht es darum, die Kontrolle über Grenzen und Wirtschaft wieder zu bekommen, die von Brüssel „entwendet“ wurde. „Global Britain“ heißt das alternative Konzept, Spötter sagen „Empire 2.0“. Für die anderen ist es der Untergang der Inselrepublik, wie wir sie kennen. Die in Belfast erscheinenden Irish Times nennt es – ganz katholisch – die Letzte Ölung für Britannien. Schottland und Nordirland wollen mehrheitlich in der EU bleiben, es droht ein Zerfall des Königreiches als Ganzes.

Vom Kontinent aus könnte man mit Gelassenheit, wahlweise mit Spott oder mit Sympathie den Prozess beobachten, mit dem sich das UK neu definieren will. Aber das Ganze hat Konsequenzen für das Selbstverständnis der europäischen Integration, es hat Konsequenzen für die Wirtschaft der verbleibenden 27 Staaten der EU. Und es wirft Fragen nach einer Neudefinition von Nationalstaat und nationaler „Kontrolle“ auf.

Über das Selbstverständnis von Britannien als Seemacht, als Hüter des Commonwealth (das gemeinsame „Wohl“ der einstigen Kolonien), als Welt(und Atom-)macht mit permanentem Sitz im UN-Sicherheitsrat, mit der Weltmetropole London samt seiner Bankenmacht, ist viel geschrieben worden. Dabei haben wir ausgerechnet Großbritannien als Champion der (neo)liberalen Wirtschaftsordnung, der deregulierten (Finanz-)Märkte und der Globalisierung gesehen. Englisch als Weltsprache, von Hongkong bis Guayana, von Kapstadt bis Anchorage. Und dieses Land zieht sich zurück, in seine Vorgärten, in die gute alte Zeit von „Rule Britannia“ und „Land of Hope and Glory„?  Was haben wir da verpasst?

Vermutlich haben wir die Außendarstellung von Großbritannien überschätzt und den Niedergang in altindustrialisierten Regionen ignoriert. Wir haben bei aller britischer Weltgewandtheit übersehen, wie misstrauisch das Land die Zuwanderer aus der EU betrachtet hat – genau jenes Land, das für Freizügigkeit steht und Millionen Zuwanderer aus seinen einstigen Kolonien aufgenommen hat.

Was blüht uns nun aus den gepflegten englischen Gärten? Zunächst einmal ein Wachrütteln aus unserem Phlegma, dass die Dinge bleiben wie sie sind (weil sie doch gut sind). Die Zukunft Europas und der Nationalstaaten, die Vor- und Nachteile wirtschaftlicher Globalisierung, die Beachtung von den „forgotten people„, wie der US-Nationalist im Weißen Haus sie nennt, darüber beginnt ein Diskurs in Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit (hoffentlich auch in den Lehrplänen von Schulen und Hochschulen). Nach Jahren der Alternativlosigkeit tauchen plötzlich Alternativen auf: Was sind eigentlich die Werte, auf denen Europa (=EU?) basiert? Lässt sich ein Europa ohne EU denken? Ist Integration nur ein Euphemismus für offene Märkte und brutalen Wettbewerb? Es macht nachdenklich, wenn sich ein Land wie das Vereinigte Königreich Zuwanderern vom Kontinent geöffnet hat (siehe Graphik) und die EU nun daran als Ganzes Schaden nimmt.

Die dunklen Wolken über Stonehenge und den gotischen Kathedralen Englands werden sich verziehen, da bin ich mir sicher. Die europäische Identitätskrise wird sich in ein verbessertes EU-Konzept verwandeln. Und das Vereinigte Königreich wird das mitgestalten. Fortschritt ist halt eine Schnecke, Rückschritt eher ein Windhund. Der Rückblick auf die gute alte Zeit, als wir noch unsere Pässen stempeln lassen mussten und uns an Wechselschaltern anstellten, in mir erzeugt er nur ein Schaudern. Also liebe Co-Europäer, die „Battle for Britain“ hat gerade erst begonnen!

Washington Post, 21.12.2018