
Ich übe gerade mit einem afghanischen Flüchtling für die Führerscheinprüfung. Der junge Familienvater ist begeistert von deutschen Autos und beeindruckt von unserer Verkehrsordnung. Wir hangeln uns am Computer durch Fragen, wie zum Beispiel „Welche Kraftfahrzeuge müssen auf einer Landstraße möglichst den befestigten Seitenstreifen benutzen? a) Kleinkrafträder, b) langsam fahrende landwirtschaftliche Zug- und Arbeitsmaschinen, b) Mofas“. Begriffe wie Absolutes Halteverbot, Durchfahrtsverbot, Unaufmerksamkeit fliegen uns entgegen und bedürfen der Interpretation. „In unsere Lander einfach fahren“, sagt Samim lakonisch. „In Deutschland haben große Angst vor Polizei!“ Ich beruhige ihn und sage ihm, dass die Ordnungshüter „Freund und Helfer“ seien.

Das galt vor einigen Jahren für uns auch in Bangladesh. Dort sollten wir zu einer Führerscheinprüfung in das Büro des Polizeichefs der Hauptstadt Dhaka kommen, damit wir die örtliche Fahrerlaubnis erhalten. Unser Büroleiter hatte das für meinen japanischen Kollegen und mich sowie unsere Ehefrauen arrangiert. Zu viert saßen wir vor dem großen Schreibtisch des in doppelter Hinsicht gewichtig aussehenden Beamten. Es gäbe nur eine kurze mündliche Prüfung, meinte er. Wer wolle zuerst? Mein japanischer Kollege meldete sich eifrig. Er hatte ein neues Auto gekauft und benötigte die Fahrerlaubnis dringend. „What do you do when you see a red traffic light?“ war die erste Frage. Der Japaner schien sichtlich erleichtert: „I will stop„, antwortete er beflissen. „Rubbish! You never stop at red traffic light,“ polterte der Beamte. „You will cause accident!“ Mein japanischer Kollege erblasste, aber bevor er in Ohnmacht fallen konnten versicherte der Polizeichef, dass wir damit alle die Prüfung bestanden hätten – ein wahrer Freund und Helfer.
Verkehrsregeln sind flexibel anderswo, das kennt jeder, der einmal in Paris oder Palermo gefahren ist. Ganz anders aber sind sie in Indien. In Städten gibt es dort keine Trennung von Autos, Motorrädern, Fußgängern oder sogar Lkw. Alle haben das gleiche Recht zur Fortbewegung – mitten auf der Straße. Bürgersteige (ein herrlich altmodisches deutsches Wort) sind nicht vorgesehen oder zugeparkt und zugebaut mit „Straßenständen“. Als Regel gilt für alle Verkehrsteilnehmer: keinen Blickkontakt suchen. Just go, sagte mir ein Freund. Und wer den kurzen Videoclip hier unten genau betrachtet, erkennt das Muster. Hupen und Fahren. Man achte auf die Gruppe Schulkinder, welche die Kreuzung überqueren müssen.
Man kann, besser: man sollte mit geschlossenen Augen durch die Straßen gehen. Mir fehlt dazu das Urvertrauen und so bleibt Indien das einzige Land, welches ich seit 40 Jahren bereise, in dem ich noch nie selbst gefahren bin. Lieber die Auto-Rikshaw nutzen und ein „Ave Maria“ sagen.