Auf einem Hügel im Südosten der Türkei entdeckten Archäologen Relikte einer steinzeitlichen Kultstätte, die bislang hier in Sichtweite von Sanliurfa niemandem aufgefallen war. Im Verlauf der Ausgrabungen legte man auf dem Göbekli Tepe (tepe = Hügel) kreisförmig angeordnete mehr als sechs Meter hohe Felsstelen frei. Sie enthielten Reliefs mit Tierdarstellungen. Die nur zum kleinen Teil freigelegte Anlage stammt aus der Zeit um 10000 v. Chr. und ist damit die älteste Kultstätte der Menschheit. Erstaunlich: keine Siedlungsreste oder Grabkammern weit und breit. Was aber die Wissenschaftler noch mehr erstaunte: Um 8000 v. Chr. haben jene steinzeitlichen Baumeister die Stelen wieder vergraben. Sie deckten die ganze Anlage mit Steinen und Geröll ab. Was bewegte Menschen dazu, eine mit ungeheurem Aufwand über fast zwei Jahrtausende geschaffene Kultstätte dem Vergessen zu überlassen? Dies bleibt bislang ein Rätsel.
Wenn Menschen bewusst Abschied nehmen von dem, was sie in einer ungeheuren zivilisatorischen Anstrengungen erschaffen haben, dann vielleicht, weil sie die Kultstätte nicht in die sich abzeichnende Zukunft mitnehmen wollten. Eine Vorstellung von metaphysischen Kräften aber, so die moderne Lesart, schuf erst jene Gruppenorganisation, die in der Lage war, eine solche Anlage überhaupt zu bauen. Sie daher wieder verschwinden zu lassen wäre ein geradezu revolutionärer Akt und stellt unsere Kulturtheorien auf den Kopf.
Denn hier im Norden des Zweistromlandes zwischen Euphrat und Tigris hatte tatsächliche eine Revolution eingesetzt, die neolithische. Auch wenn dieser Übergang von steinzeitlichen Jägern und Sammlern zu sesshaften Ackerbauern und Tierzüchtern über Jahrhunderte vor sich ging, alle Spuren deuten daraufhin, dass die „neolithische Revolution“ genau hier im Südosten der Türkei begann. Die klimatischen Bedingungen waren zum Ende der letzten Eiszeit um 10000 v. Chr. günstig, aber vermutlich lebten Altsteinzeit und Neolithikum lange Zeit nebeneinander. Bislang galten in der Altertumsforschung Landwirtschaft und deren Überschüsse als Grundbedingungen für zivilisatorische Entwicklung: Haustiere und Ackerbau schaffen einen Mehrwert für Kultur (=Religion, Priestertum), Territorium und Verwaltung (=Schrift, Staat und Herrschaft). Daher sind wohl alle frühen „Hochkulturen“ in den großen Flusstälern des Orients entstanden.
Aber diese so logisch scheinende Entwicklung beinhaltet Denkfehler. Der amerikanische Autor Jareed Diamond spricht vom „Fluch der Landwirtschaft“: Das nahe Zusammenleben von Menschen und Nutztieren erzeugte unbekannte Krankheiten und die Äcker gaben keine Garantie auf ausreichende Ernte. Sesshaftigkeit wurde dann zur Falle. Ausgerechnet das Alte Testament, im Zweistromland verfasst, verwendet dafür eindrucksvolle Metaphern: Gott vertreibt Adam und Eva nach dem Sündenfall aus dem Paradies und verdammt sie dazu, von den „Früchten ihrer Arbeit“ auf dem Feld und im Schweiß ihres Angesichts zu leben. Im Paradies hingegen konnten sie die Früchte der Bäume genießen. Es mag der Abschied vom „Paradies“ gewesen sein, der die Erbauer der Anlage von Göbekli Tepe dazu bewegte, damit auch die metaphysische Dimension ihrer Existenz aufzugeben und alle Symbole zu beerdigen.
Es wäre so, als wenn wir heute den alten Bundestag in Bonn, in dem das 1949 Grundgesetz verabschiedet wurde, mit Erde und Bauschutt überdecken, oder den Ort in Rom, wo vor 60 Jahren die „Römischen Verträge“ zur Gründung der späteren EU unterzeichnet wurden, weil unsere Zukunft der Weg zurück zu Nationalismus, „Blut und Boden“-Ideologien, Xenophobie und Abschottung ist. Von dem, was wir seit 1945 so Wert geschätzt haben, scheinen wir uns zu verabschieden. Wir sollten es den Erbauern von Göbekli Tepe nach tun und uns (sprichwörtlich) begraben lassen.
Göbekli Tepe und die Schlachtfelder des Zweistromlandes heute
Es ist eine bittere Ironie der Menschheitsgeschichte, dass Göbekli Tepe nur wenige Autostunden entfernt von Aleppo, Kobane, Raqqa oder Mossul liegt. Dort finden sich seit einigen Jahren die entsetzlichsten Schlachtfelder unserer Zeit, in der Stämme, Ethnien und Religionen um Territorien kämpfen, als gehe es um den Untergang des Morgenlandes. Aber das tut es wohl. Und noch eine weitere Randnotiz: Eine halbe Fahrstunde südlich von Göbekli Tepe und Sanliurfa Richtung syrische Grenze, in mitten einer Bewässerungsoase, liegt Harran. Hier wohnte der Urvater aller drei nahöstlichen Religionen, Abraham, bevor er weiter nach Kanaan zog. Was für ein Mahnmal zur Versöhnung könnte man hier bauen. So aber wird die Zivilisation erneut zu Grabe getragen.

Man wünschte sich, dass die eindrucksvollen Stelen von Göbekli Tepe über uns schweben wie die im Film „2001 – Odyssee im Weltraum“. Dort zeigten sie jeweils den Beginn einer neuen Epoche der Menschheitsgeschichte an. Die Erbauer von Göbekli Tepe wollen uns 12000 Jahre später daran erinnern.
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