West-Belfast: eine politische Wanderung

„Lieber Brüssel als London“, sagt Andy auf die Frage, warum 75 % der Wähler im Westen der nordirischen Hauptstadt Belfast gegen den Brexit gestimmt haben. Wir treffen uns an jenem Septembertag 2016 mit ihm am Divis Tower, einem unscheinbaren Hochhaus mit Mietwohnungen aus den 1960er Jahren. Uns trennt vom Zentrum Belfasts eine Schnellstraße und im Verkehrslärm hier am Beginn der Falls Road ist es nicht leicht, Andys tiefgründiger Analyse der irisch-britischen Geschichte zu folgen. dsc01064

Wir sind am Ausgangspunkt einer Wanderung entlang der Falls Road, die uns zu Spuren des Nordirlandkonfliktes bringen soll. Was im Vereinigten Königreich als „Troubles“ bezeichnet wird, ist mir als „Bürgerkrieg in Nordirland“ aus den Fernsehbildern der 1970er Jahre in Erinnerung. „Ich werde Euch ganz bewusst die irisch(-republikanische) Perspektive liefern“, sagt Andy gleich zu Beginn. So solle vermieden werden, dass Narrative der „Troubles“ nur von einer Seite bestimmt werden.

Andy ist Volunteer und Sozialarbeiter bei Coiste na n-Iarchima, einer kleinen Organisation, die sich um Aussöhnung, aber auch um die Dokumentation der IRA-Geschichte bemüht. Er führt auf Wunsch Besuchergruppen zu Stationen und Monumenten jenes Kampfes durch seinen Stadtteil West-Belfast. Gleich am Divis Tower lag die Frontlinie zwischen Nationalisten/Republikanern/Katholiken und Unionisten/Loyalisten/Protestanten (die Begriffe sind nicht synonym und werden je nach Akzentuierung verwendet). Der Westen Belfast entlang des Falls Road ist grün, heißt zu über 90 % katholisch. Am Divis Tower zeigt uns Andy eine Plakette zweier junger Opfer zu Beginn des bewaffneten Konflikts im August 1969. Überall in der Umgebung sind die Mauern mit Stacheldraht und Metallzinken gesichert.

Andy ist Jahrgang 1958. Mit 13 Jahren kam er zur IRA, nachdem ein Klassenkamerad von der Polizei erschossen worden war. Von 1976 bis 1983 saß er in einem britischen Gefängnis. Die Haftbedingungen und den Alltag in der Gefängniszelle beschreibt er später im IRA-Museum, in einer Seitenstraße der Falls Road. Hier sind Memorabilien in einem Ausstellungsraum für die Öffentlichkeit zugänglich. Er zeigt uns ein Foto mit seinen Freunden aus den früheren 70er Jahren, das unter einer Glasplatte liegt.

Wir wandern weiter entlang der vielen Murals (Wandzeichnungen), er weist uns auf Gedenkplaketten zu Getöteten hin, die der flüchtige Blick leicht übersieht, und zeigt uns kleine Memorial Gardens, die an die Opfer (und die Kämpfer) des Konflikts erinnern. Er erzählt auch, wie der Hungerstreik der IRA-Häftlinge den Kampf auf die politische Ebene überführte. Einer von ihnen, Bobby Sands, wurde als Häftling ins britische Unterhaus gewählt. Er war aber auch eines der ersten Opfer des Hungerstreiks.

Man merkt Andy an: Es ist eine Wanderung durch sein Leben. Er ist Zeitzeuge und Aktivist in einem, seine Erzählungen gehen unter die Haut. Aus einer urspünglich für drei Stunden geplanten Tour werden fünf. Sie endet weit westlich auf dem Milltown Cemetery. Im beginnenden Regen wandern wir durch das ausgedehnte Gräberfeld. Am äußersten Rand des größten katholischen Friedhofs von Belfast liegen die Gräber der IRA-Gefallenen, die mit irischen Flaggen geschmückt sind. Andy erzählt vom Ereignis aus dem März 1988, als es vor den Kameras der Weltpresse ein Attentat beim Begräbnis dreier in Gibraltar getöteter IRA-Kämpfer auf dem Milltown-Friedhof gab.

Befragt nach der Zukunft für Nordirland ist Andy skeptisch: Es gäbe keinen Runden Tisch zur Aufarbeitung von Schuld und Sühne, der politische Prozess im Parlament von Nordirland könne dies nicht allein lösen. Eine junge Generation wachse heran, die immer noch keine Job-Perspektive habe. So hip sich Belfast für internationale Touristen präsentiere, für West-Belfast gäbe es dazu keine Projekte. Gerade deshalb sei der Rückblick auf die Gewalt in den 70er und 80er Jahren wichtig, Geschichte dürfe sich nicht wiederholen. Er lädt uns noch zu einem Bier an der Falls Road ein und holt uns dann ein Black Cab, das uns zurück ins Zentrum von Belfast bringt. dsc01123

Weitere Informationen:

Webseite von Coiste na n-Iarchimí

Bobby Sands bei Wikipedia

Verteilung von Katholiken in Belfast, erstellt von CAIN, University of Ulster

Tipp: Per Google Street View lässt sich die Tour entlang der Falls Road nachzeichnen.

Weitere Quellen:

How West-Belfast became the frontline of the troubles. THE GUARDIAN online, 3 November 2020